Hunger an der Wolga. 1922

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Hunger an der Wolga. 1922

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Hunger an der Wolga . Fanz Jung .Berlin 1922.

Отрывок из брошюры о Марксштадте
BARONSK

Ich will versuchen, den ersten Eindruck von Baronsk möglichst getreu wiederzu geben. Am Pristan war schon reges Leben. Eine Frachtbarke, die gerade ausgeladen wurde, versperrte uns den direkten Anlegeplatz. Wir mußten über die Barke hinweg. Man entlud Kartoffeln und Mehl. Am Ufer standen eine große Anzahl von Fuhr-werken. Der Weg vom Ufer zur Stadt ist sehr beschwerlich. Eine tiefe Sandwüste, und obwohl alles steinhart gefroren war, lag frischer Flugsand über dem Boden, in den man noch bis über die Knöchel einsank. Der Weg ging über tiefe Bodenrisse, in den größeren hatte sich Wasser zu kleinen Teichen angesammelt. Der eigentliche Fahrweg ging in großem Bogen auf die Anhöhe, hinter der die Stadt lag. Pferde und Kamele hatten schwer zu tun. Die Tiere sahen erbärmlich aus. Die Bauern gingen neben den Wagen her, hieben wie toll auf die Tiere ein, ächzend und stöhnend schob sich die Karawane vorwärts. Die Bauern in ihren kurzen Schafpelzen sahen noch gar nicht so schlecht aus, stämmige Gestalten, starkknochige breite Gesichter, auf denen ordentlich noch die Spuren der Sommersonne eingegraben schienen.Vielleicht in 1 Werst Breite wird Jahr für Jahr das Land der Wolga geopfert, nach der Schneeschmelze wird es überflutet. Nach dem Abfluß des Wassers liegt es unbeachtet. Es ist Wüste geworden, niccht mehr der winzigste Halm wächst darauf, und es ist doch gleich der fruchtbarste Marsch. Noch nach der Gluthitze dieses Sommers, den Sandstürmen während der

Dürre leuchtet durch Risse und Sprünge hindurch der Humusboden, die schwarze Muttererde.Oben auf der Anhöhe stehen die Ambare, wohl an hundert Ambare, in zwei, drei Reihen hineinander. Die Ambare sind die Getreidespeicher. Sie erinnern in ihrer Bauart an die Speicher in den kleinen deutschen Hansastädten, die noch aus' dem Mittelalter stammen. Eine breite Treppe führt von außen etwa bis zur Höhe eines dritten Stockwerkes hinauf. Es sind sehr massiv gebaute Speicher. Sie sind jetzt nationalisiert. Aber einige sind schon eingerissen. Es fehlt an Brennholz. Zwar liegen am Ufer viele Tausende Klafter Holz und Brennschiefer, die man im Sommer die Wolga heraufgeführt hat. Aber nur das Notwendigste für die Behörden ist in die Stadt geschafft. Unter unsäglichen Mühen konnten wenigstens die Arbeitskräfte mobilisiert werden, das Brennmaterial ans Ufer zu schaffen. Jetzt liegt es dort. Schon liegt dichter Schnee darüber. Die Fluten lecken schon bedenklich. Eine Schneeschmelze wird alles wieder fortschwemmen. Die Menschen aber in der Stadt und die vielen Tausende, die auch in Baronsk das Schiff erwarten, frieren. Sie frieren entsetzlich; in Lumpen, die wenigsten haben noch Schuhe und Strümpfe. So holen sie sich das Brennholz von den Ambaren. Dieser Winter wird sie vollends fressen. Es ist das Wahrzeichen einstigen Reichtums. Wie reich muß dieses Land gewesen sein. Unheimlich sieht die tote Stadt dieser Ambare aus. Der Fremde hält sie zunächst für Wohnhäuser, denkt: Das ist also Baronsk und erschrickt im Innersten. Eine dicke schwarze Wolke von Raben kreist darüber. Manchmal knarrt vom Steppenwind gepackt eine Tür Der Wind heult.

Von der Höhe der Ambare breitet sich in die weite Ebene hinein, die Stadt. Strahlenförmig gehen die breiten Straßen. Wir stolpern, noch ehe wir in eine derselben einbiegen auf den großen Platz, der im Hintergrund von den Ambaren umsäumt wird, über Steinreihen, schon halb vom Sand verweht. Es sind die Grundmauern des Volks-hauses, das hier einmal gebaut werden sollte. Es war ein großzügiger Plan, ein geistiger und gesellschaftlicher Mittelpunkt sollte erstehen. Heute denkt niemand mehr daran. Das Schicksal mancher Pläne. An der einen Seite des Platzes sind Hunderte von landwirtschaftlichen Maschinen auf einen Haufen zusammengeworfen. Die Kooperative hat sie den armen Bauern, die um ihr Brot ihr letztes veräußern mußten, abge¬kauft, ehe sie dem Wucherer in die Hände fallen — leider vielfach zu spät. Es sind nur noch die Reste.
Die Straßen weisen zahlreiche Häuser auf, die Landhauscharakter tragen, schmucke weiße Fassaden mit grünschillerndem Dach. Aber überhaupt die Mehrzahl aller Häuser machen einen reinlichen, wohlhabenden Eindruck. Doch je weiter wir kommen, näher an die Häuser heran, zeigen sich die Spuren des Verfalls. Die Hof-umzeunung ist schadhaft, das Schneewasser hat die Einfahrt unterwühlt, oft sind die Fenster nur notdürftig geflickt. In den Höfen, öde und unsäglich traurig ausschauend, türmt sichrer Schmutz. Und immer sichtbarer wird, daß ein schreckliches Unglück über die Stadt hereingebrochen sein muß. Der Anblick der Häuser erzählt davon.

Doch das Leben scheint nicht erstorben. Viele Menschen gehen auf den Straßen. Ein großer Wagenverkehr. Gräßlich, wie Signalhörner, heulen die Kamele. Eine Schafherde, eng zusammengedrängt, biegt in eine Seitengasse ein. Schweine pirschen sich an den Häusern lang. Ein Rudel kläffender Hunde jagt hinterher. Dazwischen das Gebrüll der Bauern, die auf Pferd oder Kamel losschlagen. Sie haben keine Peitsche, einen langen Knotenstock, der auf die Flanken klatscht. Und trotz alledem — alles scheint träge zu schleichen, ein bißchen unwirklich.Dann aber legt sich der Reiz des Unerwarteten. Man will tief Atem holen, da würgt es einem die Kehle. Man entdeckt ihn eigentlich erst jetzt — den Pestgestankr der über der Stadt lastet. Er überfällt dich, läßt dich kaum mehr vorwärts kommen. Die Augen brennen. Ich habe etwas ähnliches schon einmal erlebt. In den ersten Kriegsmonaten in Polen, nach den Gefechten um Lodz, als wir, ein kleiner Trupp von Deserteuren, auf eigene Faust uns zur Grenze durchschlagen wollten, querten wir ein Dorf, das soeben von Russen oder Deutschen geräumt war. Einige Häuser brannten, Schrappneils streuten noch über die Straße, überall lagen Tote am . Wege. Die Unsicherheit kam hinzu, was beginnen, wohin wenden. Da überfiel uns dieser Geruch, der in die Brust dringt und das Blut gleichsam verdickt. Quälender Durst und doch eine furchtbare Apathie. Man trinkt das Wasser aus der Pfütze, in der vielleicht eben einer verreckt ist. Man stürzt sich auf die Toten, um vielleicht noch irgend etwas brauchbares zu erraffen. Die Hemmungen einer anerzogenen Kultur schwinden, nur Gier nach Befriedigung. Und alles scheint in einen gelben, schmutzigen Nebel gehüllt. Dieser Gedanke lag über der Stadt. Es bedurfte aller Willensanstrengung, solche Eindrücke niederzukämpfen. Nirgends war Nebel, die Luft war klar, die Menschen trotteten ruhig ihres Weges, den Kopf vielleicht mehr gesenkt als sonst. Vielleicht, daß auf den Höfen das Mistholz qualmte. Aber es war mehr als das — es stank nach Leichen. Und das stand schon auf der Stirn der Menschen geschrieben, die vorübergehen.Baronsk ist der russische Name der Stadt. Die deutschen Kolonisten nannten sie Katharinenstadt. Seit das Gebiet als Arbeitskommune der Deutschen an der Wolga eine Autonomie erhalten hat, heißt sie Marxstadt. Sie zählt heute 15 000 Einwohner.
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DER MARXSTÄDTER BASAR

Ich stand von Anfang an den Berichten von den Basaren im Hungergebiet zweifelnd gegenüber. Ich fürchte, man wird auch mir nur halb glauben. Es ist nicht nur alles vorhanden, sondern es ist auch viel billiger als anderswo. Der Bürger denkt: Natürlich, die Hungerleider verkaufen eben alles, was sie noch haben; so kann man billig zu einem Pelz kommen. Das war auch mal so, im Sommer, als die Katastrophe einsetzte. Diese Stufe des Elends ist aber jetzt schon überschritten. Es ist nichts mehr da, womit der Bürger auf Gelegenheit spekulieren kann, wenigstens nicht auf dem Basar. Man spekuliert heute in Grundstücken und Evakuierungspapieren und mit dem Holz und Stroh der Dächer — aber davon noch später. Man lebt im Hungergebiet viel billiger als in irgend einer anderen Stadt Rußlands. Nach Moskauer Preisen be¬rechnet, kostet Brot, Butter, Milch etwa die Hälfte, Fleisch kaum mehr als ein Viertel. Man wird sich wundern, ja gibts denn das alles? Gewiß, und in ansehnlichen Mengen. Zwar gibt es vielleicht noch mehr Kuchen als Brot. Die Kuchen sind sehr billig. Vom reinsten Weizenmehl gebacken, Buttergetränkt, mit Schokoladenguß und Schlagsahne. Eine ganze Frontseite des Basars füllen die Kuchen- und Konfektstände. In mehreren Buden trinkt man einen großartigen Bohnenkaffee, Kaffee a la Warschau, Kaffee mit einer hohen Haube Schlagsahne. Querüber auf der anderen Seite sind die Fleischstände. Es wirkt phantastisch, welche Riesenmengen Fleisch zum Verkauf gestellt sind. Da hängen reihenweise Hammel und Schweine. Ein westeuropäischer Großschiachter würde vor Neid platzen. Und das Fleisch ist, mit den Bürgern zu reden, spottbillig. Ich habe nicht gesehen, wer das alles kauft. Irgendwo muß es aber doch hinkommen, denn jeden Morgen ist immer, scheint es wenigstens, frische Ware da. Ich kam gerade an dem Tage zum ersten Male auf den Markt, als bekannt wurde, daß die Tarifsätze der Arbeiter und Angestellten zum nächsten Ersten erhöht werden sollten. Daraufhin stiegen alle Produkte sofort um 30 Prozent. Vorher also, um nochmal mit dem Bürger zu sprechen, hatte man es geradezu geschenkt bekommen. Ich fragte meinen Begleiter und tat, als verstände ich nicht, denn die Leute kommen doch günstigstenfalls erst in sechs Wochen in den Besitz ihres höheren Lohnes —? Er lächelte und wußte es auch nicht. In den Nachmittagstunden waren aber trotzdem Kuchen und Fleisch, Eier und Brot zu den höheren Preisen verschwunden. Das ist die eine Seite des Marktes. (Wir sprechen schon davon noch.)

Der Basarplatz, sagt man, ist zu klein geworden. Die Verkäufer fanden nicht mehr Platz genug. Ich konnte nicht herausbekommen, ob man jetzt erst umzieht oder schon umgezogen ist. Ich sah den Basar aufgeschlagen auf einem Friedhof, neben der katholischen Kirche. Den Pfarrer sah ich auch auf dem Basar. Er verkaufte nichts, er kaufte. Der Boden war festgestampft wie Stein und hügelig. Man hatte einen wundervollen Blick in die weite unermeßliche Steppe, am Westrand der Stadt. Die Kirche ist ziemlich das letzte Haus. Gegenüber steht das ehemalige Kaufmannshaus, jetzt der Agitpunkt, ein Mungermuseum ist darin. Man schenkt unentgeltlich dort Tee aus. Aber als ich hineinging, stoben zwei alte Frauen auseinander. Es kommt so selten jemand. Vor der Tür aber ist das Marktgewühl. Zwischen Agitpunkt und Kirche ist der Friedhof. Dort ist der Basar. Ich las schöne deutsche Trostsprüche. Manche Grabsteine sind umgestürzt. Man muß sich vorsehen, um nicht die Knochen zu brechen. Augenblicklich, heißt es, begräbt man weiter draußen in der Steppe. Ich sah einen solchen Leichenzug. Selbstverständlich nicht nur einmal. Das ist sozusagen das erste, was man in Marxstadt sieht. Aber nur einmal einen richtigen mit dem Pfarrer nämlich. Es gibt keine Pferde, außer für die wichtigsten staatlichen Transportarbeiten. Gestalten, die man als Leichnam hätte ansehen können, trugen auf den Schultern den Sarg, vielleicht eine. Werst weit in die Steppe. Dahinter schwankten ein paar völlig vermummte Weiber. Sie sahen so vermummt aus, weil sie aus allerhand Einzelstücken von Lumpen notdürftig den Oberkörper vor Kälte schützen wollten. Ein Schneesturm, der auch mit Eisstücken um sich warf, ging ganz barbarisch mit diesem Zuge um. Vorneweg aber fuhr der Pfarrherr in einem Kutsch wägeichen, ein »feuriges Pferdchen am Zügel, das Fell glänzte durch den Schnee. Die große Glocke der Kirche läutete schwer und melan-' cholisch, wie in den Kindheitstagen in mainer katholischen Vaterstadt.

Aber zum Markte zurück. Zu meinen ersten Eindrücken gehören auch die Verkaufsstände von Werkzeugen, Geschirren und Grammophonen. Der eine davon war in Tätigkeit und verkündigte den andächtig Lauschenden eine Rede Wilhelms des Einfältigen, unterbrochen von einem Präsentiermarsch. Mancher Bauer, der drüben von der Russen¬seite jenseits der Wolga herübergekommen war, lernte vielleicht dabei zugleich die deutsche Sprache. Ich entfernte mich, als der Apparat gerade dreimal Hurra schrie. Nicht weit ab stand ein Mann mit einer Drehorgel. Es war ein altes deutsches Kirchen¬lied, was da vor sich ging: Nimm mich in deine Hände, Herr Jesu Christ — und da¬neben stieß eine ganz verhutzelte Bäuerin ihre Tochter, die mit vor Kälte verweinten Augen vor ihr stand, an: Horche noch mal, das hat ganz gefährlich schön geklunge . Und dann wollte ich gehen.Da sah ich noch, etwas abseits, eine große Menge Menschen auf einem Haufen. Eine öffentliche Versteigerung. Inmitten eines dichten Kreises stand ein ältlicher Mann mit noch straffen Gesichtszügen, klarem Adlerblick, der Typ eines süddeutschen Bauern und hielt einen alten Regenschirm hoch. Ihm gegenüber stand der Mann, der die Gebote annahm und ausrief. Der erste pries fortgesetzt die Güte des Schirmes oder schnarrte verächtlich den gebotenen Preis nach. Ich dachte: Ein Lichtblick. Denn daneben, auch mitten im Kreis, stand ein in Lumpen gehülltes Weib, das sich kaum auf den Beinen zu halten schien, den Kopf gesenkt, wie als müßte sie eine fürchterliche Prüfung über sich ergehen lassen. Es lag offenbar. Das ist die gegenseitige Hilfe, — dachte ich. Die Frau traut sich nicht mehr, selbst zu verkaufen. Hilfsbereite veranstalten für sie eine Versteigerung. Schließlich wurde für 20 000 Rubel der Schirm losgeschlagen. Die Frau sah dankbar auf den Käufer und sah zitternd den anderen die Papiere in Empfang nehmen. Während die Menge auseinanderging, wurde ich einen Augenblick abgedrängt. Ich sah die beiden Männer und noch einen dritten um das Mütterchen stehen. Ich kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie jeder der drei sich 4000 Rubel abzog, die Frau erhielt im ganzen 8000 Rubel. Das ist hier so Brauch, sagte mir einer. Dann ging ich. Das waren die ersten Eindrücke. Ich kann mir nicht helfen, vielleicht glaubt man mir's nicht.
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