Zwei Jahre Schinell.
Als Wolgadeutscher in russischem Militärdienst 1915-17.
Von G.S. Löbsack.
II.
Zwei Nächte und einen Tag rollten wir in unseren Viehwagen ins Ungewisse, mit Unterbrechungen an kleinen verlassenen Bahnhöfen, an belebten Eisenbahnknotenpunkten oder mitten im Feld. Aber es war nicht langweilig, wie es überhaupt dort nicht langweilig ist, wo eine russische Ziehharmonika trudelt. In jedem Wagen war eine, und von überall her erklang die Saratowskaja, jenes kurzstrophige, grotesk-sehnsüchtige Lied mit dem 15, 20, 25 und mehr immer neuen und neuen Strophen. Was den Spieler bewegt, singt er hinein. Das Lied betäubt und man vergisst über der Wolgasehnsucht die Wirklichkeit. Aber ich habe mich auf jener Fahrt doch immer wieder in die Lage der Bauern gewünscht, die in der Steppe unserem Zug begegneten, ihre Pferdlein Schritt gehen ließen, um die aus 30 Viehwagen tönende Saratowskaja zu hören und uns, den äußerlich kreuztfidelen Rekruten, wehmütig interessiert zuzuwinken. Ach, sie wussten ja so wenig von der Welt, von der Verrücktheit des Krieges, von der Nutzlosigkeit der Opfer an Menschen und Volksgut. Sie hatten keine Ahnung, wie bös es in unserer Brust stürmte. Ihnen genügte die Versicherung des Amtsvorstehers, Zar-Batjuschka habe den Krieg befohlen. „Wir sind ein ungebildetes Volk und wissen nicht, was Mütterchen Russland von Nutzen ist.“ Wer kennt nicht dieses ergebene: My narod negramotny! Wir aber in den Viehwagen seufzten einmal um das anderemal: E-e-ch, du Schicksal, unser Schicksalchen! Darin lag alles, was wir fühlten und wussten. Unsere Ahnung hatte helle Augen. Wir schickten uns aber in die Fügung. Nietschewo! Es ist nun einmal so, und wer weinen will, gehe ins Birkenäldchen hinterm Dorf oder wandere kreuz und quer durch das russische Land oder lasse sich am Schwarzen Meer von der Krimsonne trösten oder er trote durch die Tundra und verliere sich in Sibirien. Wer aber Soldat ist, lege sich auf die Pritsche in den Viehwagen oben in der Kaserne und höre, geschlossenen Auges, die Saratowskaja zu. Er wird erkennen, dass dieses Nitschewo nicht lediglich gültigkeit, sondern dass es eine Weltanschauung ist, deren Geburtszeit in die Jahrhunderte lange russische Leibeigenschaft fällt.
Doch: das sind Grübeleien, der wir Soldaten so leicht verfielen; von den Fronten kamen Nachrichten über schwere Niederlagen, grausige Metzeleien, fürchterliche Verwüstungen. Das beunruhigte uns täglich mehr, und die Behörde sorgte für „Zerstreuung“. Was soll ich erzählen von den Dingen, die jedem Soldaten begegnet sind? Eines sei gesagt: wir alle, Russen, Tataren, Wolgadeutsche, Kalmücken - wir alle litten unter der militärischen Rute.
Unser erstes Gethsemane war Insar, jenes wahrscheinlich kleinste, weltvergessenste, toteste Städtchen des Gouvernements Pensa. Dort wohnen Menschen und Tiere in einer Stube, dort gab es nur eine Schule, ein energischer Beamtenfuß hatte sich dorthin nie verirrt. Es liegt nicht an der Bahn, und sein Flüsschen, die Issa, ist ein Tröpfchen im Vergleich zur „Metmitz“ bei Frank. Dies Städtchen schläft winters und sommers, und die Leute darin wissen nicht, wo links und wo rechts liegt. Nicht einmal das sinnvolle Nitschewo ist dort bekannt, es sind dann nur wenig echte Russen, es sind dann die echten Pensjuki, Tschuwaschen, und Tataren. Das ist Insar. Da hinein kamen wir und fühlten das Städtchen mit Lärm und Harmonikaspiel, kauften die kleinen Läden leer und aßen Aladi zu 3 Kopeken das Stück, was wohl ein erträglicher Preis gewesen sein mag. Unsere Kasernen, brettergelb in die ersten Schneetage hinaus leuchtend, lagen auf einem Hügel, ein gut Stück Wegs hinter dem Ort. Der Mädchen, mit denen wir hätten tanzen und „spille gehe“ können, gab es nur wenige, was gar nicht sehr schade war denn wir hätten uns um diese Freude doch totgegrämt, wenn wir abends in die Kasernen zurückgetrieben wurden, vor denen ich mich sehr grauste, weil sie schon nach ein paar Tagen vor Ungeziefer trotzten.
Uns Wolgadeutschen wurde nicht nur der militärische Drill beigebracht, sondern auch das Bewusstsein, dass alles Deutschtum - auch unseres - inmitten der Edelnationen der Entante Unflat sei. Unter 900 Russen, Tschuwaschen und Tataren waren wir 200 Wolgadeutsche. Mit Absicht hatte man uns mit anderen Nationalitäten vermengt, weil wir von Haus aus Deutsch freundlich, also Verräter Russlands seien. Wir mussten „beaufsichtigt“ werden. So recht zum Bewusstsein wurde uns dies alles zwei Monate nach Dienstbeginn gebracht.
Eines Tages hielt der zuständige Unteroffizier folgende schöne Ansprache:
„Prachtkerle! Also, wisst ihr, Zar-Batjuschka braucht neue Offiziere. Versteht ihr das? Die barbarischen Deutschen schießen immer auf unsere Offiziere. Das ist eine Schweinerei! Ohne Offiziere ist der Soldat doch ein Hammel. Stimmt das? Ich habe hier eine Liste, da sind die drauf, die in die Offiziersschule geschickt werden soll. Iwanow, Pjotr Iwanowitsch tritt mal hervor!“
Pjotr Iwanowitsch Iwanow trat hervor.
Kuschnarjow, Arsenij Mitrofanowitsch, tritt auch du mal hervor!
Auch er trat hervor, und in zehn Minuten waren es zwanzig Mann, die Offiziere werden sollten. Russen, ein Mordwine, zwei Tataren. Kein Deutscher. Dafür wurden uns besondere Worte gewidmet, die annähernd so lauteten:
„Ihr, Njemzy, werdet nicht gebraucht, weil man euch nicht übern Weg trauen kann. Das wäre noch schöner: Ihr lasst euch hier in Russland zu Offizieren machen und flieht dann nach Deutschland. He, he, gibt es nicht! Was denkst du, du Schafskopf - der Redner näherte sich kampfbereit meinem Nebensmann -, glaubst du, ich könnte dich auch nur einmal „euer Wohlgeboren“ nennen? Dich, he, he! Kann ich gar nicht. „Wasser holen! Meine Stiefel putzen! Die Kaserne ausfegen!“ das werde ich sagen. Und du musst es tun. Bilde dir nun ja nichts auf deine Schulbildung ein, dies hilft dir nichts. Wir brauchen keine deutsche Gewalt, und euren Wilhelm erhängen wir doch noch!
Dies und Niederträchtigeres hatten wir bisher tagtäglich gehört, wir waren an solche Redensarten also schon gewöhnt. Aber dabei stramm stehen müssen, nicht mit der Wimper zucken, dem Kerl nichts erwidern dürfen, in uns kocht es, Zornnestränen fliegen uns in die Augen, die Hände krampften sich zusammen. Nicht Offizier sein? Gut, uns um so lieber, je dümmer ihr euch benehmt. Tausende von Russen beneiden uns um diesen Vorzug der seinen Ursprung in der Herabsetzung hatte. Schmutzige Arbeiten verrichten? Tut nichts: damit vernichtet ihr uns nicht. Wir bleiben trotzdem sauber. Aber uns als gewissenloses Geschmeiß hinstellen, uns Eidbruch und Landesverrat zuzutrauen, so - im Bausch und Bogen -, pfui Teufel, kläglicher Pensjuk. Wo hat dein Vater denn wirtschaften gelernt? Hat er seine Weisheiten nicht von den deutschen Wolgabauern? Begreifst du nicht, dass gerade Leute wie du uns Wolgadeutsche zur Verzweiflung treiben, dass wir wahr und wahrhaftig an Fahnenflucht denken, weil wir euch ja doch nur Hunde sind! Sollen wir unser Leben opfern für Chauvinisten, die ihre teuflische Freude daran haben, wenn sie die Fremdstämmigen recht ergiebig wer bespeien dürfen? Wenn einer von uns eidbrüchig wird, so seid ihr, du und deinesgleichen, schuld daran. Soll ich für einen Großfürsten verbluten, der die Meinigen daheim von Haus und Hof Jagd, sie beraubt und zu Bettlern und Geächteten macht?
Von uns, d. h. aus unserem Truppenteil, ist kein Wolgadeutscher eidbrüchig geworden, die ganzen zwei Jahre lang nicht, obwohl wir das Dasein geschlagener Hunde führten.
Dem russischen Volke, dem sonst immer verlachten und dumm geheißenen Muschik, sei erst zu Ehre angerechnet: dies Volk war weiser als die Herren droben und ihre Diener unten, einen Deutschenhaß hat es nicht gekannt. Unter tausend Soldaten ist mir kaum einer aufgestoßen, der uns Wolgadeutsche nicht wie sich selbst geachtet hätte. Keiner von ihnen hat uns verlacht und verhöhnt. Ja, wenn wir schmutztriefend die ekelsten Arbeiten verrichteten, so sahen sie uns voller Mitleid an, und aus ihren Augen sprach ein Verstehen, wie es einem Chauvinisten nicht gegeben ist. Sollten wir ihn, den Muschik, dafür nicht liebhaben, sollten wir uns ihm nicht anschließen, nicht seine Nöte und Gebrechen, seine Unzulänglichkeiten und Vorzüge nicht ebenso verstehen?
Wenn wir zusammen saßen, spät abends in der Kaserne, und Tee tranken oder der natürlichen aller russischen Soldatenbeschäftigungen, der Jagd auf Ungeziefer, nachgingen, so waren wir gute Kameraden. Mit dem großen und weisen Nitschewo! fanden wir uns in die Lage und plauderten herzinnig von Leid und Freud des russischen Untertans.
Heda, Iwanuschka, los - die Saratowskaja!
(Fortsetzung folgt)
Der Wolgadeutsche, Nr. 5, den 1. März 1923