DAS STERBEN IN DER STEPPE
Marienburg
Die Kino-Operateure, die den Mannheimer Rayon mit dem letzten, der Gebietsverwaltung gebliebenen Auto bereisten, bis auch dieses auf eben derselben Tour zum Teufel ging, wurden in den Dörfern mit Musik empfangen. Der Sowjet, der davon in Kenntnis gesetzt wird, wie ein Auto sich durch die Steppe heranwindet, zeitweilig verschwindend in den Gräben und Rissen, die die Dürre in den Boden gefressen hat, mobilisiert die noch nicht Verhungerten der ehemaligen Dorfkapelle, um die Fremden gebührend zu begrüßen. Alles was im Dorf noch laufen konnte, kommt auf die Straße. Allmählich werden die Gesichter lang, sehr lang. Welches auch der Zweck solcher Kommission sein mag, und seien es selbst Kino-Operateure, die mit einer An¬sprache über die bevorstehende Hilfsaktion über die Umherstehenden herfallen, wenn erst alles das gekurbelt sein wird — die Enttäuschung ist jedesmal ganz furchtbar. Ich selbst konnte in den Mannheimer Rayon nicht mehr hinkommen. Es fehlte an jeder Transportmöglichkeit. Man hofft bis zum Dezember einen regelmäßigen Transportverkehr mit Kamelen organisieren zu können. Das sagte man Ende Oktober. Die aber um jene Zeit aus diesen Gebieten kamen, erzählten Schreckliches. Es war mit dem letzten Transport, der nach dem Evakuierungssammelpunkt geleitet wurde. Auch Marienburger waren noch darunter.
Das Dorf sieht aus, als wäre es Zeuge eines gräßlichen Verwüstungskampfes gewesen. Reihenweise, ganze Straßenzüge, sehen die Häuser aus wie zerschossen und im Granatfeuer niedergelegt. Die Marienburger, eine Siedlung von nahezu 5000 Seelen, sind im ganzen Gebiet wenig geachtet. Alles Schlechte traut man von vornherein den Marienburgern zu. Ein hoher Verwaltungsbeamter nennt sie noch heute eine Horde von Banditen und Dieben, die am besten ausgerottet werden müßten. Die Marienburger sind eine katholische Siedlung inmitten von Lutheranern. Nicht weit davon ab sind die Mennoniten-Dörfer, die Wolga-Aristokratie. Man kann sich von dem religiösen Haß der Wolga-Kolonisten untereinander kaum eine Vorstellung machen. Die Mennoniten, die noch reichlich Pferde haben, deren Lage auch für die Heranführung der Verflegungshilfe besser ist, die sogar noch über Mehlvorräte verfügen, wenn auch nur für 2—3 Monate, reiben sich die Hände, daß neben ihnen die Marienburger verrecken. In diesem Dorf, über das die Katastrophe Ende Juni schon hereinbrach, gilt das Gesetz nicht mehr allzuviel. Schon zweimal ist der Sowjet im Laufe der letzten Wochen neu besetzt worden. Die Amtsvorgänger haben sich niederlegen müssen, das heißt, sie sind liegen geblieben und gestorben. Auch in Marienburg werden die Kommissionen trotzdem noch mit Musik empfangen. Es sind viele Justizkommissionen darunter. Die Marienburger sollten Angaben über die Herbstsaatfläche machen. Damals hat der Pfarrer den Marienburgern gesagt, Gott müsse ihnen helfen, und Gott werde erst die Sowjets strafen, die alles verschuldet haben. So hat man denn keinerlei Vorarbeiten in Marienburg gemacht. Dann kam die erste Panikwelle. Wer noch Lebenswillen in sich spürte, suchte fortzukommen. Ganz gleich auf welche Weise. Das Dach über dem Kopfe wurde verkauft, die Querbalken, aller Hausrat, die landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen — alles wurde verschleudert. Die Mennoniten und die Russen aus dem Nebendorf von der andern Seite waren gierige Abnehmer. Aufs geratewohl, mit dem letzten Pferdchen fuhren die Leute los, ohne Ziel. Manche sind zurückgekommen, sehr viele aber sind auf dem Wege durch die Steppe zugrunde gegangen. Das war im August. Um diese Zeit ist der Pfarrer ausgerissen und hat seine Herde im Stich gelassen.
Das Gerücht kam, daß in den umliegenden Ortschaften Saatgetreide ausgegeben wird. Da sandten auch die Marienburger eine Delegation. Obwohl sie nichts vorbereitet hatten, erhielten sie schließlich auch Wintersaat. Aber man muß die Leute sprechen. Man muß die Unglücklichen erzählen hören, der Sowjet konnte sich nicht durchsetzen und dann, wie soll er auch anders sein als alle Marienburger — das Saatgetreide wurde zu zwei Drittel sofort aufgefressen. Ein ganz winziger Teil wurde ausgesät, ein Teil noch an die Nachbargemeinde verkauft. Jetzt sieht man um das Dorf ein paar grüne Fleckchen Saatfläche, aber das letzte Stück Vieh weidet darauf . . . Schwere Strafe droht den Marienburgern, dem Sowjet, dem örtlichen Hilfskomitee. Aber ich glaube nicht, daß einer auch nur wird imstande sein, sich zu verantworten. Man könnte sich vorstellen, wie er durch die Leidensgeschichte seines Dorfes verständige Richter vielleicht finden wird. Aber die Vorstellung ist müßig. Die Marienburger sind heute von der Welt so gut wie abgeschnitten. Für die Reichen aus den Nachbarsiedlungen gibt es dort nichts mehr zu holen. Arbeitskräfte nach außerhalb können die Marienburger nicht mehr stellen. Sie sind von selbst auf den Gedanken gekommen, sich als Arbeiter auf die Sowjetgüter zu verdingen. Aber man hat sie ausgelacht — die Marienburger und arbeiten, hieß es, und dann die Sowjetgüter — es war einmal ein schöner Plan, heute sind sie so gut wie verlassen, man hat sie kaum gesehen, Pferde und Zugtiere sind längst weiß Gott wo hin, zum Teufel, in einer Zeit, wo sie den Kristallisierungspunkt im Wiederaufbau bilden müßten, mit dem guten Beispiel vorangehen sollten, wo Hunderttausende an der Wolga gespannt auf die Arbeit der Sowjetgüter sehen — es ist ein Skandal und ein Verbrechen! Der einzige wirklich fähige Oekonom im Gebiet, ein Oesterreicher, ein studierter Mensch — wird am Schweinekoben beschäftigt. Aengst-lich hütet man sich, ihn in die Verwaltung hineinblicken zu lassen.
Es ist nur eine Parallele zu Marienburg. Auch Marienburg ist nur ein Name wie viele andere. In Marienthal, in Luzern und überall weiter hinein in die Steppe nach Osten ist es das gleiche. In anekdotischen Einzelheiten verschieden, in der Gesamtlage völlig gleich. Da gibt es kaum noch Rettung. Es wäre eine Lüge, wollte man etwas anderes sagen. Die Menschen draußen in der Steppe werden sterben. Daß sie nicht in der Lage sein werden, die Frühjahrssaat zu bestellen, darüber gibt sich auch heute die Verwaltung keiner Täuschung mehr hin. Vielleicht werden einige überwintern, aber die übergroße Mehrzahl wird zugrunde gehen. Vielleicht, wenn sie aus sich selbst heraus den brennenden Wunsch hätten, zu leben, sich selbst zu helfen, einen Funken eigener Initiative, er würde weiterspringen, übergreifen auf die Verwal¬tung, auf die Menschen ringsum, denen es ein klein wenig besser geht, vielleicht — der Mensch im Kampfe um die eigene Existenz verbringt manchmal Wunder. Dieses Wunder tut dringend not.
Hunger an der Wolga. 1922
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